Unendlichkeit

 

 

Lieber Manfred,

fragst Du mich, was jenseits der Erde und des Lebens existiert/wirkt/droht…, so denke ich zuerst an ein Erlebnis aus den frühen Siebzigern: Ich nahm (zum ersten und letzten Mal) LSD und befand mich stundenlang auf einem „Trip“: Die streng orthogonalen Linien, die unserem Leben Halt verleihen und Orientierung bieten, begannen sich zu bewegen, bogen sich; der eigene Körper schrumpfte, die eigenen Hände erschienen zwergenhaft klein; Blumen und Pflanzen begannen zu atmen, strahlten eine faszinierende Aura aus…. Ich trat ins Freie, blickte in den (tiefblauen) Himmel; und meine Seele erhob sich, sauste in unermeßlicher Geschwindigkeit in die Höhe, ins All. Ich bekam Angst und holte sie zurück.

Was mir dabei klar wurde: wir leben hier auf Erden wie in einem Terrarium, ein feudales (für viele auch schreckliches) Gefängnis. Unsere Wahrnehmung ist erd- und menschenbestimmt. Zahlen, Maße, Richtungen, Raum und Zeit – auf unsere Erde bezogen.

Will der Mensch über die Erde hinaus ins All vordringen, benötigt er irdische Hilfsmittel und schafft im Hinblick auf das unermeßliche All nur eine winzige Distanz. Weiter gelangt er mit seiner Vorstellungsgabe: der Welt – raum(!) ist unendlich; menschliche Denkfähigkeit und Logik stoßen an ihre Grenzen. Wäre das All als „Raum“ begrenzt, dann müßte es immer weitere, größere „Räume“ geben, ohne Ende. Oder aber es herrscht das Nichts, die absolute Leere, Raum- und Grenzenlosigkeit; es herrschten neue, andere, für uns unfaßbare Dimensionen.

Auch die Anzahl der Planeten scheint unendlich (s. Sternenhimmel über Afrika). Planeten bestehen aus Materie; verwandeln sich von einer Materie in eine andere. Doch woher stammt diese Materie? War immer schon „etwas“ vorhanden, was sich in ständiger Bewegung befindet und sich ständig verändert?

Die Vorstellung von einem „Schöpfer“ ist menschlich gedacht. Die Vorstellung vom „Sein“, von der „Existenz“ (Werden – Vergehen – Werden; ein Kreislauf, ein System) ist irdischer - menschlicher Natur, wohl kaum auf das All, die Unendlichkeit übertragbar.

Das Prinzip/die Funktion unserer Existenz ist ein Polares (Anfang – Ende; Höhe – Tiefe; Jung – Alt; Krieg – Frieden..), wobei unsere Moral darauf aufbaut und versucht, die Balance zu halten; geht die Balance verloren, droht ein Extrem überhand zu nehmen, geraten wir aus der Balance und sind dem Verderben, dem Untergang geweiht.

Fazit: Unser „Auftrag“/unsere „Aufgabe“ ist es, ein endliches Leben hier auf Erden zu führen; uns selbst, den Mitmenschen und der Natur möglichst wenig zu schaden; das uns Gegebene sorgsam zu gebrauchen, zu schätzen, zu genießen.

Kein Hoffen auf ein „Jenseits“; das Zuende gehen ist gleich zu setzen mit dem Hinübergleiten in den Schlaf. Das Bewußtsein und das damit verbundene Ich erlöschen. Die Seele – vielleicht in Gestalt einer unbekannten Energie – entfernt sich ins unermeßliche und unergründliche All, läßt den toten Körper incl. Denkfabrik (Gehirn) zurück. Wir werden das grenzenlose Nichts, die unendliche Leere, die Entstehung bzw. die Herkunft der Materie nie ergründen.

Das geht über unseren „Horizont“.

Beschränken wir uns auf das Sichtbare/Greifbare/Machbare als irdisches Hier und Jetzt. Führen wir bis zur letzten Minute ein humanes menschenwürdiges Leben.

Fortbestehen werden wir in der Erinnerung unserer Nachkommen; auch in Gestalt unserer materiellen, kulturellen und intellektuellen Hinterlassenschaft.

Das Eine (die Frage nach dem Sinn des Lebens) ist mit dem Anderen (dem Trachten nach dem Jenseits) verbunden, verwoben, wie Du siehst.

Liebe – und zwar die all umfassende „zwischenmenschliche“ sowie allem Kreatürlichen gegenüber – ist wohl dauerhaft aber m.E. nicht unendlich. Daß sie über unsere Welt hinausreicht ins All, können wir nur hoffen/annehmen/vermuten.

„Unendlich“ wird von uns gern als Verstärkungsadverb mißbraucht (unendlich schön/gut/glücklich/traurig…)

Zu unserer Kunst: Das CHAOS verlangt nach Ordnung; die ORDNUNG nach Chaos. Urstoff, der uns anregt, aus dem wir schöpfen, den wir einer (Bild-)Ordnung zuführen. Mit Chaos verbindet sich die Vorstellung von Lebendigkeit, Bewegung, Veränderung. Zerstören wir die (hergebrachte, tradierte) Ordnung und führen sie dem Chaos zu, empfinden wir ein Gefühl der Freiheit und das Bestreben nach Neuordnung, Veränderung.

Betrachte ich unser beider Arbeit (bes. was die Malerei anbelangt) sehe ich in Dir mehr den Konstruktivisten (der aus dem Chaos schöpft und neue Ordnungssysteme sucht), in mir eher den Chaotiker, der erst mal das Hergebrachte zerstört sowie aus chaogenen Strukturen/Bewegungen zu neuen Formen und Zusammenhängen findet. Der Ansatzpunkt ist ähnlich, die Ergebnisse differieren.

Wenn man unser Wesen, unseren Charakter betrachtet, ist es interessant, dass wir in der Kunst das Gegenteil unserer mentalen Stimmung anstreben. Dich, den Mystiker zieht es in der Kunst zu Klarheit und Ordnung hin; während ich, der eher sachlich-nüchterne Verstandesmensch, Pragmatiker, mehr zum Ungeordneten, Ungebändigten, Wilden hin tendiere. Auch hier wird wieder die Spannung der Dualität bzw. Polarität spürbar/sichtbar.

In meinen Träumen das Labyrinthische, das Herumirren in fremden Gebäuden und fremden Städten/Landschaften. Die Angst, Orientierung und Halt zu verlieren. Ich hoffe inständig, dass mit unserem Tod die Individualität, das Selbstbewußtsein erlischt; denn der Unendlichkeit der Zeit- und Richtunglosigkeit sind wir nicht gewachsen.


 


 

 

Download des Brieftextes meines Bruders im PDF-Format

 

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