Rede zur Ausstellungseröffnung des „Figurentheater Langenhardt“ am 28. September 2012
Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren, lieber Herr von Linprun!
Als J.W. von Goethe 1797 nach zwanzigjähriger Pause die Arbeit an seinem „Faust“ wieder aufnahm, verfasste er als ersten von drei Prologen ein Gedicht mit der Überschrift „Zueignung“, das mir ganz spontan einfiel, als ich mich an die Konzeption dieser kleinen Rede zur heutigen Ausstellungseröffnung machte. Das wunderbar zarte elegische Gedicht mit jenem sattsam bekannten ersten Vers („Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“) kam mir wohl deshalb in den Sinn, weil in den vier Strophen Goethes alle Stimmungen und Gefühle enthalten sind, die mich beim Zurückdenken an jene Zeit vor fast 30 Jahren überfluteten, in der die hier ausgestellten Figuren und die Stücke, in denen sie agieren sollten, entstanden sind: Die melancholische Erinnerung an einstige Freunde und Zuschauer, die Erinnerungen an „Bilder froher Tage“, an „das freundliche Gedränge“ hinter der Bühne, an „des Lebens labyrinthisch irren Lauf“, aber auch die Freude darüber, dass all das, was scheinbar unwiederbringlich verschwunden war, zu einer neuen Wirklichkeit geworden ist; die Zeit ist ja nicht vorbei („Vorbei! Ein dummes Wort. Warum vorbei?“, heißt es im 5.Akt von Faust II!). Die Zeit ist aufbewahrt in uns, in dem, was wir sind und werden! Freilich, „jugendlich erschüttert“, wie es im 7.Vers der „Zueignung“ heißt, fühle ich mich schon beim Anblick all der ausgestellten Figuren, die im Gegensatz zu mir, zu ihrem Schöpfer, zu allen Mitspielern und Zuschauern von damals um keinen Deut gealtert sind, sondern frisch, anmutig, kraftvoll und beredt in die Runde blicken und dabei doch ganz bei sich sind, ganz in sich ruhen, einer Welt angehörend, die uns fern zu sein scheint und doch ganz die unsrige ist: der Welt der Kunst. Die Figuren, die uns hier umgeben, bilden, lieber Herr von Linprun, meines Erachtens einen zentralen Kern in Ihrem künstlerischen Schaffen, und die Stücke, in denen diese „Gestalten“ agierten und an deren Mitgestaltung und Aufführung mitzuwirken ich die Ehre und das Vergnügen hatte, gehören mit zu Ihren schönsten und vollkommenen, wenn auch verborgensten Schöpfungen. In ihnen finden sich, wie ich meine, in geradezu exemplarischer Form jene drei Komponenten vereint, die nach Hans-Georg Gadamer jedes Kunstwerk konstituieren: Das Spiel, das Symbol, das Fest.
Zunächst das Spiel.
Das Spiel, meint Huizinga in seinem Werk „Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel“, das Spiel „ist eine geistige oder körperliche Tätigkeit, die keinen unmittelbaren praktischen Zweck verfolgt und deren einziger Beweggrund die Freude an ihr selbst ist.“ Weil das Spiel nach bestimmten, von allen Teilnehmern anerkannten Regeln, den Spielregeln, abläuft - was natürlich ein Gelingen oder ein Versagen möglich macht! -, ist das Spiel ohne Mitspieler nicht denkbar. Das Spiel ist eine Gemeinschaftsangelegenheit, ein Unternehmen gleichgesinnter und gleichgestimmter Menschen, deren Leben für die Dauer des Spiels von allen Zwängen, allen Lasten des Alltags befreit ist, wobei sie offen für sich selber werden und unbelastet zu sich selber kommen können. Der Schritt vom Spiel zur Kunst ist ein kleiner. Wie das Spiel als solches ist auch die Kunst frei von äußerem Zwang, auf keinen über sie hinausgehenden Zweck ausgerichtet. (Das heißt nicht, dass sie nicht im Betrachter Gedanken erwecken kann, die das Kunstwerk transzendieren.) Auch in der Kunst stellt sich Leben in freier, unbelasteter und von außen nicht eingeengter Form selber dar. Maßgebend sind für sie einzig die von ihr selbst gesetzten Regeln, damit das Spiel in den Augen des Spielerfinders, des Künstlers, wie in denen der Mitspieler als stimmig, als gelungen erscheint. Bei der Kunst bzw. beim „Kunstspiel“ kommt jedoch noch etwas hinzu: Jedes Kunstwerk oder Kunstspiel ist unbedingt neu, noch nie gesehen, noch nie gehört. In ihm erschafft der Künstler etwas vorher noch nicht Dagewesenes, lässt er für die Augen des Zuschauers, des Mitspielers etwas vollkommen Neues entstehen und zum Leben erwachen. Er bewirkt, wie Gadamer es ausdrückt, durch das neue Werk „einen Zuwachs an Sein“ in der Welt. Davon profitieren die Welt, er selber und der Zuschauer bzw. Mitspieler. Die Kunst bzw. das Kunstspiel ist ja, wie jedes andere Spiel, im tiefsten Wesen eine Gemeinschaftsangelegenheit und würde ohne Mitspieler zum solipsistischen Vergnügen degenerieren. Ohne eine Teilnahme, ohne ein Mitspiel von außen, das immer einer Mitarbeit gleichkommt, bleibt das Werk inaktiv, man könnte auch sagen unfruchtbar. Fruchtbar, aktiv wirksam wird das Kunstwerk nur im Mitvollzug. Ein Betrachter, der nicht mitspielt, der das Spiel nicht mitvollzieht, manifestiert nicht nur sein Desinteresse an der Kunst, am Kunstwerk, am Künstler, sondern weist auch die„Segnungen“ der Kunst ab, begibt sich der Möglichkeit, das eigene Sein zu erweitern, neue Kenntnisse zu sammeln, neue Erfahrungen zu machen, kurz: sich in seinem Menschsein weiterzubilden und weiterzuentwickeln. Nichts anderes, glaube ich, meint Schiller, wenn er im 15.Brief seines Traktats „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ behauptet:
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Und das schönste und segensreichste Spiel, das er spielen kann, ist das der Kunst. Im Spiel, aber besonders im „Kunstspiel“ kommt der Mensch ganz zu sich selbst, indem er sich vergisst. „Die von Gegensätzen beladene Last der Existenz“, meint Adolf Muschg, ist für den Moment „aufgehoben und leicht, eben spielend zu bewegen, denn sie ruht auf ihrem Schwerpunkt in vollkommenem Gleichgewicht.“
Symbolisch sind die Linprunschen „Kunstspiele“ oder, im Fall seiner Stücke für Figurentheater, seiner „Kunstspielstücke“ nicht in dem Sinn, dass etwas anderes gesagt und gezeigt wird, als gemeint ist, das Gemeinte aber durchaus verstanden wird. (Man malt ein Herz, von einem Pfeil durchbohrt, und meint ein in Liebe entbranntes Ich.) Wäre es so, müsste man sie als „allegorisch“ bezeichnen. Allegorien sind sie aber nicht! Sowohl seine Bilder wie seine Figurentheaterspiele meinen, was sie sagen und zeigen. Ihre Bedeutsamkeit beruht darin, dass durch die in ihnen aufleuchtende betörende Schönheit inmitten unserer krisenhaften, kranken Zeit etwas beschworen, ja erfahrbar wird, was wir schon fast für verloren geglaubt haben: eine freie, heitere, harmonische, eine trostreiche, liebevolle, beglückende, eine gesunde, nein, ich scheue mich nicht, das Wort auszusprechen: eine heile Welt, die als Antithese in einem mitvollziehbaren Prozess sich aus der kranken, leidenden, zerstörten Welt herausentwickelt. Indem die Linprunsche Kunst dem Leben einen Spielraum zur Selbstdarstellung gewährt, lässt sie immer, anders wäre sie misslungen, das Leben in seiner Totalität erscheinen, soweit diese uns erfahrbar ist. Linpruns Werke sind keine Botschaftsüberbringer, stehen nicht im Dienst einer Kunstschule oder Ideologie. Seine Werke, und das gilt für seine Bilder genau so wie für seine Figuren und Stücke, haben Ihre Bedeutung darin, dass sie die Totalität des Lebens sichtbar werden lassen durch die Art und Weise, wie sie sich präsentieren und wirken. Sie verweisen auf nichts als auf sich selbst und damit auf alles. Durch das, was sie sichtbar machen, sprechen sie sich aus. Wir müssen uns nur auf sie einlassen, wir müssen nur „mitspielen“, dann erfahren wir – nicht, was der Künstler uns sagen wollte oder will, er wollte und will uns nichts sagen, wollte und will uns nicht belehren, sondern was wir selber sind, was in uns selber ruht und seiner Entfaltung im und durch das Mitspiel harrt. (Womit wir wieder bei Schillers 15.Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen sind!)
Und diese Erfahrung wirkt sich aus als Freude, als Hochgefühl, als Beglückung, wodurch der Kunstvollzug zum Fest wird, in den Figurentheaterstücken sogar zum besonders ausgeprägten, da ritualisierten Gemeinschaftsfest. Ein Fest ist, und das hat es mit dem Spiel und der Kunst gemeinsam, immer eine Angelegenheit, die eine Gemeinschaft betrifft, ist ohne eine Gemeinschaft von Feiernden, und sei sie noch so klein, überhaupt nicht denkbar. Und während die Gemeinschaft in ritualisierter Form das Festspiel begeht, ist sie der normalen Erfahrung von Zeit enthoben und füllt diese Zeitleere mit der Eigenzeit des Kunstspiels, an dem sie, sich und die Welt vergessend, hingebungsvoll teilnimmt, womit sie die Voraussetzungen schafft, die reale Welt zu verstehen und zu durchdringen. Je intensiver wir am Kunstspiel teilgenommen haben, desto tiefer und reicher erscheint es uns; desto klarer und fassbarer leuchten uns unser Platz und unsere Verantwortung im so chaotisch erscheinenden Geflecht des Lebens auf! (Womit wir wieder bei Schillers 15.Brief sind!)
Damit wollen wir es auch gut sein lassen.
Es wäre unfreundlich von mir, Sie noch länger vom „Kunstspiel“ abzuhalten, das Ihnen die ausgestellten Figuren offerieren, selbst wenn sie scheinbar statisch bleiben. Betrachten Sie sie eingehend, denn sie sind, auch isoliert, auch ohne in das Gesamtkunstwerk aus Sprache, Musik, Bewegung und Licht eingebunden zu sein, um darin ihre Rolle zu spielen, unglaublich starke „Spielfiguren“ und durchaus fähig, Sie zu einem erhellenden Gedankenspiel mit ihnen zu verführen. Sie sind, jede für sich, auch autonome Kunstwerke. Und wenn Sie sich verführen lassen, wird sich Ihnen ein Welttheater eröffnen, in welchem Sie selber die Hauptrolle spielen. Nicht anders wird es Ihnen ergehen, wenn Sie sich demnächst an einer der beiden Aufführungen des Kleinen Prinzen hier in diesem Museum „beteiligen“ werden. Überhaupt empfehle ich Ihnen zum Schluss, sich keines der Langenhardter Figurentheaterstücke – und ich hoffe, sie kehren alle nach und nach auf die Bühne zurück! - entgehen zu lassen. Sie werden „Festspiele“ erleben, die Ihnen nicht mehr aus dem Sinn gehen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Georg Apfel. 28.9.2012 |