Georg Apfel

 


Nürnberg, 3.8.2014

Lieber Herr von Linprun!

Es gibt nur wenige Menschen, an die ich so oft denke wie an Sie. Dafür könnte ich mancherlei Gründe aufzählen, die ich aus Scham oder Scheu lieber für mich behalte. Einen aber kann ich ganz unbedenklich äußern: Es sind die Werke von Ihrer Hand, die mich umgeben und jeden Tag, rund um die Uhr, an Sie erinnern. Dass diese Erinnerung immer auch mit einem Gefühl der Dankbarkeit gepaart ist, habe ich Ihnen im Lauf der vielen Jahre, durch die mich Ihre Kunst begleitet, bereits des öfteren gesagt.

Für ein Werk allerdings, ich möchte es wegen seiner schieren Größe, seiner gewaltigen Ausmaße und seiner Bedeutung, die mir in ihrer ganzen Tragweite erst nach und nach bewusst geworden ist, Ihr „Hauptwerk“ nennen, habe ich, soweit ich mich entsinne, noch niemals expressis verbis Danke gesagt. Die „August-Lieferung“ aus der Serie „Neues zur Chaotik“ ist ein passender Anlass, dies hiermit „in aller Feierlichkeit“ zu tun bzw. nachzuholen.

Seit Oktober 2009 haben Sie, lieber Herr von Linprun, zuerst alle zwei Monate, ab Oktober 2010 dann monatlich jeweils ein Konvolut von 60 Bildern ins Netz gestellt, bis zum heutigen Tag also, wenn ich mich nicht verrechnet habe, insgesamt 3180. Eine gigantische Zahl, eine wahre Bilderflut, eine Bilderlawine, könnte man sagen, klänge das nicht so sensationslüstern und also banal.Nun ist es beileibe nicht so, dass ich davon kaum oder nur oberflächlich Notiz genommen hätte. Ich habe von Anfang an diese Veröffentlichungen mit Neugier erwartet, mit großem Interesse begleitet, war überrascht, entzückt, begeistert über all das nie vorher Gesehene, über den ungeheuren Reichtum an Farben und Formen, über die verworrene, chaotische Bündelung und Durchmischung, Verschmelzung und Aufspaltung von Linien, Flächen, Räumen und Farben, bald gebändigt, bald wieder zerstiebend. Die Freude, ja Begeisterung, die Sie, wie ich weiß, bei der Verfertigung dieser Bilderreihen im pechschwarz abgedunkelten Raum empfunden haben und immer neu empfinden, hat sich, wenn auch nicht in vergleichbarer, dafür aber einer umgewandelten, neuen Intensität auf mich als Betrachter übertragen und überträgt sich immer neu. Die Bilder haben gewirkt! Sie wirken! Sie wirken immer! Jedes von ihnen! Und wie! Sobald ich mich in eines, egal welches, ganz vertiefte oder vertiefe, was naturgemäß immer die unabdingbare Voraussetzung für das Rezipieren eines Kunstwerks ist, begann oder beginnt der Sog, der Strudel, der Taumel zu wirken. Die Kraft, die von jedem dieser Bilder, egal von welchem, ausgeht, ist, lässt man sich auf sie ein, lässt man sie in sich eindringen, eine ungeheure, eine, die die Sinne und den Verstand verwirrt, die schier unerträglich stark werden kann. Aber das ist nur der eine Teil der Wirkung. Der andere ergibt sich, sobald man den Blick nur ein Stückchen nach rechts oder links oder oben oder unten lenkt. Alles beruhigt sich plötzlich, alles klärt und glättet sich. Damit aber nicht genug, denn der Zustand der Besänftigung währt nur einen Augenblick. Unverzüglich beginnt nämlich das Spiel, schrecklich und schön, wieder von neuem. „So geht es fort, man möchte rasend werden!/ Der Luft, dem Wasser, wie der Erden/ entwinden tausend Keime sich“ (Faust I, V 1373 f). Nie habe ich, wenn auch mit einem anderen Ergebnis, Mephistos Gekeife besser verstanden als nach der Betrachtung eines dieser Bilder. Und das ist auch der Grund für meinen Brief und meinen Dank, Herr von Linprun. Was Sie da monatlich in unglaublicher Fülle in die Welt schicken, ist ein im Wortsinn ungeheures und unendliches Welttheater, in dem Monat für Monat, in sechzig Akten, in abstraktester und deshalb unendlich bedeutungsvoller Form nichts anderes aufgeführt wird als das Spiel des Lebens. Die Formulierung klingt pathetisch, will pathetisch klingen, denn das, was sie bezeichnet, ist pathetisch im höchsten Sinn. Das „Spiel des Lebens“ ist reines Pathos. Alles, was dem Leben der Welt und dem Leben in der Welt begegnet, zustößt, widerfährt, das Entstehen also, das Vergehen, der Aufschwung, die Niederlage, Krankheit und Leid, das Leiden und der Kampf dagegen, aber auch die Lust und die Leidenschaft: all das wird von dem griechischen Begriff „Pathos“ umfasst, und all das, Herr von Linprun, ist in jedem einzelnen Bild aus der Lichtspielserie „Neues zur Chaotik“ in höchster Abstraktion und gleichzeitig auch in höchster Klarheit und Schärfe enthalten. Jedes, aber wirklich jedes dieser Bilder zeigt, wie aus dem Chaos eine Welt entsteht, vergeht und wieder neu entsteht, jedes zeigt den Modus des Lebens, die Schönheit des Lebens.

„Diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann“, meint Friedrich Schlegel. Auf beglückende Weise zeigen Ihre Bilder, Ihre Lichtbilder, Herr von Linprun, genau das. Sie lassen nachvollziehend erleben, wie jeweils aus einem Chaos eine Welt entspringt. Und diese Welt ist schön, wenn auch nicht ganz und gar verständlich. Sie ist wahr, wenn auch nicht in allem nachvollziehbar. Will man sie mit dem kognitiven Gehirn allein aufnehmen und analysieren, muss man zwangsläufig scheitern. Ohne die Zuhilfenahme des emotionalen Gehirns kommt man da nicht weiter. Arbeiten beide aber Hand in Hand, hebt sich in jedem Bild der Vorhang zu einer neuen Welt! Wie sollte man Ihnen, lieber Herr von Linprun, für dieses aus Licht gefertigte Welt- und Lebenstheater, das dem Betrachter derartige sinnliche und geistige Genüsse in Hülle und Fülle schenkt, für all die hinreißend schönen und prachtvollen Szenen, in denen höchst Pathetisches sich entwickelt und ereignet, wie sollte man Ihnen dafür nicht dankbar sein? Ich bin es. Und das wollte und will ich Ihnen heute sagen. Expressis verbis!

Ihr Georg Apfel

 

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