Linie
Fläche
Raum
Text
Georg Apfel
Wer A sagt, muß auch B sagen.
Muß er?
Warum müßte er?
Wer von Kunst spricht, muß auch sagen, was er damit meint.
Muß er?
Warum müßte er?
Wer von moderner Kunst spricht, darf alles sagen.
Darf er?
Warum dürfte er?
Wer A sagt, kann auch B sagen.
Wer von Kunst spricht, kann auch sagen, was er damit meint.
Wer von moderner Kunst spricht, spricht von Kunst.
Der Begriff modern spielt keine Rolle dabei.
Wer A sagt, darf B sagen.
A wie Ars.
Ars: Kunst.
B wie Bedeutung.
Was bedeutet Kunst?
Was ist Kunst?
Wer A sagt, muß nicht, kann, darf aber sagen,
was sie ihm bedeutet.
Ich sage A.
Ich sage B.
Ich sage, was ich über Kunst denke.
Ich sage, was Kunst mir bedeutet.
Ich sage, was Kunst für mich ist.
Kunst.
Kunst beinhaltet handwerkliches Können.
Das ist ihr Voraussetzung, aber nicht ihr Wesen.
Kunst ist undenkbar ohne Fleiß.
Das ist ihr Voraussetzung, aber nicht ihr Wesen.
Kunst ist undenkbar ohne Liebe zu allem, was ist.
Das ist der Motor, der den Künstler antreibt,
Kunst zu machen, nicht aber ihr Wesen.
Kunst spendet Hoffnung auf Einsicht in den Sinn
des Lebens.
Das ist eine ihrer Wirkungen, nicht ihr Wesen.
Kunst verbreitet Licht, Klarsicht, Hoffnung, Glauben, Liebe.
Das sind ihre Auswirkungen, die den, der sich
auf sie einläßt, frei machen; frei von Angst,
Hoffnungslosigkeit, Dunkelheit, Haß; frei von
den Zwängen der Dummheit und Verstocktheit.
Was ist dann das Wesen der Kunst, aller Kunst,
ob heute, ob vor tausend Jahren geschaffen?
Es ist das Gestalt gewordene Streben nach Vollkommenheit,
nach absoluter Vollkommenheit.
Gibt es Vollkommenheit, absolute Vollkommenheit?
Es muß sie geben, wenn anders unser Streben nach
ihr nicht Wahnsinn sein soll.
Ist Vollkommenheit dem Menschen, dem Künstler
erreichbar?
Sie ist es nicht.
Das anhaltende Unvermögen, Vollkommenheit je
ganz zu erreichen, ist nun gerade
die Herausforderung für den Künstler.
Das Erreichen der absoluten Vollkommenheit wäre
die Erfüllung und damit das Ende der Kunst.
Ein Narr nur suchte, was er bereits gefunden hat.
Erreichbar ist absolute Vollkommenheit nicht. Von
niemandem, auch im Kunstwerk nicht.
Es gibt aber, je nach Qualität des Kunstwerks,
verschiedene Grade der Annäherung ans Absolute.
Das Absolute - das Einfachste.
Das Einfachste - das Komplexeste.
Weniger ist mehr.
Je absoluter, desto umfassender.
Die Linie.
Die Fläche.
Der Raum.
Das Unendliche.
Das Allumfassende.
Das absolut Vollkommene ist eins mit sich selbst.
Ruht in sich selbst.
Hat seine Ausgeglichenheit, seine Harmonie
in sich selbst.
Ist frei.
Ist in sich stimmig.
Ist eins.
Hebt die Gegensätze in sich auf, ohne sie zu
verleugnen.
Im Erkennen des Einen, des Vollkommenen,
erkennen wir das Vielfältige, Unvollkommene,
das nach Einheit, Vollkommenheit strebt.
Erkennen wir uns.
Unser Irren.
Unser Fehlen.
Unser Verfehlen.
Erkennen wir den Weg, der vor uns liegt,
der gegangen werden muß, will man vor Ver-
führung, Blendung, Verblendung, gefeit sein;
will man vor Störung, Verstörung, Zerstörung
sich schützen; will man selbst frei, aus-
geglichen, harmonisch werden.
Will man ruhen in sich selbst.
Das Kunstwerk ist nicht die Vollkommenheit,
den Weg zu ihr aber weist es uns.
Sein Streben nach Vollkommenheit wird,
hören wir ihm zu, schauen wir es an,
Vertrauen wir uns ihm an, zu unserem.
Sein Streben nach Freiheit von Zwängen aller
Art wird unseres.
Sein Verlangen nach Reinheit unseres.
Kunst: Die Schule der Läuterung.
Der Läuterung von allem Ballast, der uns
niederzieht, hemmt, hindert, behindert;
der Läuterung von Lug und Trug;
der Läuterung vom Selbstbetrug.
Kunst: Das Gestalt gewordene Streben
nach Vollkommenheit.
Kunst: Das Beispiel.
Kunst spornt uns an, den neuen Menschen
zu schaffen.
Kunst macht uns kreativ, zu Schöpfern.
Allein durch ihr Vorbild.
Allein durch ihren Schöpfungsakt.
Ihr Schöpfungsbemühen.
Ihren Schaffensdrang.
Was sie uns sagt, sind nicht ihre, sind
unsere Worte.
Sie macht uns beredt.
Wir messen ihr ihre Bedeutung zu.
Wir füllen Sie mit Inhalt.
Wir füllen Sie, wir füllen uns.
Erfüllen uns in unserem Streben nach Vollkommenheit.
Voraussetzung: Sie strebt danach.
Sie tut es, wenn sie Kunst ist.
Wer A sagt, kann, darf B sagen.
Wer sich auf Kunst einläßt, wird reich beschenkt;
wird besser leben, zumindest besser leben wollen;
wird das Streben nach Vollkommenheit zum
Inhalt seines Lebens machen; wird das Wesen
der Kunst und des Lebens begreifen.
Wird leben.