Mailied

 


Mailied


Maiansingen? Das war früher,

Als ich Sie noch nicht gekannt hab',

Noch nicht wusste, was Chaotik

Sei, und wie sie gründlich würde

Denken mir und Leben ändern.


Darum sing ich nicht den Mai an,

Sondern preise die Chaotik,

Welche Sie mir, Herr von Linprun,

Auf den Bildschirm heute schickten!


„Heilge Ordnung, segenreiche

Himmelstochter“, zwitschert Schiller

in dem Glockenlied, dem langen,

das von Weisheit nur so strotzt.


Früher stellt' ich nie in Frage

Dieser Zeile Richtigkeit.

Heute zweifl' ich, ob er Recht hat

mit der „segenreichen“ Frau,

die vom Himmel bringt die Ordnung.


Welche Ordnung meint er denn?

Etwa die von Diktaturen,

Etwa die des Kirchenrechts,

die die Körper und die Seelen

zwinget unters Joch, das starre,

das die vielgepries'ne Ordnung

Rasch in Nichts zerfallen lässt,

Und schnell auslöscht das Lebend'ge?


Ordnung, wenn sie will am Leben

Bleiben, muss sich immer regen,

Muss tief atmen, muss sich ändern,

Unbekannte Wege gehen,

Unerwartetes erwarten,

Unvorhergeseh'nes lieben,

Muss sich öffnen für das Neue,

Muss das Neue in sich tragen,

Muss aus sich heraus gebären

Neue Formen, neue Farben,

Neue, nie geseh'ne Bilder!

Unerschöpflich muss sie wirken,

Will sie Ordnung sein, die Frucht bringt

Und Lebend'ges schafft in Fülle;

Will sie nicht erstarrt verdorren!


Solche Ordnung, Herr von Linprun,

Tritt mir schon im ersten Mai-Bild,

Und in allen, die ihm folgen,

voller Zauber und Geheimnis

Rätselhaft und klar entgegen:


Eine wahre Himmelsordnung,

Die bewirkt, dass die Gerade

Schräg sein darf und doch gerade

Und dazu noch Wellen, Kreise,

Auch Ovale schafft, Hufeisen,

Nebelbänke, Pfauenfedern,

Schmetterlinge, Fischgestalten,

Oder Würmer, oder Vögel,

Oder Puppen, oder Täubchen,

Oder sogar ein Polarlicht!

Alles birgt das Gitterwerk,

Alles machen Linien möglich,

Müssen sie nicht den Gesetzen,

Die sie wirklich hinter Gitter

Setzen und brutal erschlagen,

Sture Obödienz erweisen,

Sondern wenn sie neuen Regeln,

Freiheitsregeln folgen können

Und die Potentialitäten,

Die die Freiheit voller Liebe

Allem, was da ist am Leben,

Bietet, sich zu eigen machen!


Hiermit endet nun mein Mailied,

Herr von Linprun, das ich mutig

als ein Frühlingsständchen Ihnen

und der lieben Margit brachte.

Mögen seine Dissonanzen

Sie erheitern und ermuntern,

Weiter Bilder herzustellen,

Die mit Farbenpracht und Anmut

Einblick geben ins Geheimnis,

das man, schlicht, das Leben nennt.


Georg Apfel im Mai 2018







 

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